Träume in der Dunkelheit

Es ist dunkel in den Kellern des Verlieses. Dunkel, nass und kalt. Keine Kerze spendet Licht, kein Feuer an dem man sich wärmen könnte. Simon saß auf den modrigen Steinen, die Arme um den Oberkörper geschlungen, den Kopf auf den angezogenen Knien. Er wusste nicht mehr, wie lange er schon hier eingesperrt war, ohne den Rhythmus von Tag und Nacht, ohne regelmäßige Mahlzeiten war sein Zeitgefühl verloren gegangen. So wie seine Kleider mit der Zeit immer dreckiger und zerrissener geworden waren, war auch sein Geist abgestumpft.

In der ersten Zeit seiner Gefangenschaft war er nicht allein gewesen. Er teilte seine Zelle mit einem alten, verwirrten Kauz, der wohl schon seit Jahren hier eingesperrt war. Abgemagert bis auf die Knochen, mit wirren schlohweißen Haaren und dem Wahnsinn im Blick erzählte er Simon Geschichten aus seiner Jugend, von Heldentaten in Schlachten und Turnieren. Er konnte sich glasklar an diese Dinge erinnern. Fragte man ihn allerdings nach seinem Namen dachte er eine Weile angestrengt nach, blickte dann zunächst verzweifelt drein, um eine Sekunde später mit leuchtenden Augen von seiner ehemaligen Geliebten oder seinen Kindern zu erzählen.

Simon bot er einen Ausblick auf das, was ihm noch bevorstand. Denn Simon hatte wie der Alte nie erfahren, warum er hier eingesperrt worden war, oder wie lange seine Strafe dauern würde. Es war nie ein Urteil über sie gefällt worden, kein Richter hatte sie je gesehen. Eines Tages war er von den Soldaten des Vogts verhaftet, an einem Seil hinter den Pferden hergezogen und dann in dieses Loch geworfen worden. Einfach so. In den ersten Tagen hatte er gegen die Tür gehämmert, geschrieen und geflucht, von dem alten beäugt und belächelt.
Als dann seine Stimme verbraucht, seine Handknöchel blutig geschlagen und seine Kraft der Mutlosigkeit gewichen war, hatte er sich wie der Alte auf eine leidlich trockene Stelle des Steinkellers gehockt, sich der Ratten erwehrt und auf einen Brocken vergammelten Brotes gehofft.

Einige Zeit nachdem er eingesperrt worden war wachte er in der Dunkelheit auf. Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte, aber irgendetwas stimmte nicht. Er rief den Alten, erhielt aber keine Antwort. Nachdem er das gesamte Ausmaß der Zelle abgetastet hatte, fand er den toten Körper des Mannes, kalt und steif lag er in der Dunkelheit. Simon war geschockt, zitterte, der Angstschweiß lief ihm kalt über die Haut. Er begann wieder mit dem Hämmern gegen die Tür, versuchte die Wächter zu rufen, damit sie den Toten abholten. Nichts. Keine Antwort.

Er wusste nicht, wie lange es dann schließlich dauerte, bis endlich die Tür geöffnet wurde und ein Mann in schäbigem Lederzeug die Tür öffnete um einen Napf ungenießbarer Suppe zu bringen. Das Licht der Fackeln, dass durch die Öffnung hereindrang, schmerzte in Simons Augen, er musste sie schließen. Er stammelte und stotterte, als er dem Wächter sagte, dass der alte Mann tot sei. Der Wächter reagierte nicht, schloss die Tür und war verschwunden. Simon konnte es kaum glauben, aber dieser Mistkerl hatte ihm scheinbar noch nicht einmal zugehört.

Es dauerte wieder einige Wach und Schlafphasen, Simons Ersatz für Tag und Nacht, bis die Tür erneut aufgestoßen wurde und zwei Männer den bereits stark stinkenden und von den Ratten angefressenen Leichnam heraustrugen. Simon war erleichtert, denn auch wenn er diesmal nichts zu essen bekommen hatte, so war er doch das schreckliche Gefühl los, die Dunkelheit mit einer Leiche zu teilen.
Auch wenn das kaum noch möglich war, hatte sich seine Situation nach dem Tod des Alten noch verschlimmert, denn nun war niemand mehr da, der mit seiner Stimme die Dunkelheit durchbrach. Jetzt war das einzige Geräusch, dass Simon hörte, das stetige Rascheln der Ratten im modrigen Stroh.

Er begann Selbstgespräche zu führen, verfluchte seine Peiniger, sagte das kleine und große Einmaleins auf, betete und flehte um Gnade vor dem Herrn.
Manchmal fragte er sich, ob er wohl schon so verrückt wie der alte Mann war.


Als der Hunger unmenschlich wurde und seine Schuhe, auf deren Leder er bisher herumgekaut hatte um sich ein wenig Linderung zu verschafften, aufgebraucht waren, begann Simon sich auf das Rascheln und Quietschen der Ratten zu konzentrieren, lag stundenlang bewegungslos da um die kleinen grauen Nager anzulocken. Nach einigen vergeblichen Versuchen schaffte er es, eines der Tiere zu fangen. Er brach dem Vieh das Genick und begann dann voller Eckel, würgen und schaudern zu essen.


Mit der Zeit war es immer schwieriger geworden, die schlaue Beute hereinzulegen, und der Hunger wurde wieder unerträglich. Manchmal fantasierte er, träumte er wäre wieder zu Hause und schwelge in herrlichen Genüssen, läge in den Armen seiner Liebsten. Wenn er dann wieder in die Realität zurückfand, versuchte er sich immer als erstes, sich an seinen Namen zu erinnern.
So oft er von seiner Freiheit träumte, verfolgten ihn auch seine Todesängste in den Schlaf. Wer würde ihn in der Dunkelheit finden, wenn er tot war? Würden die Ratten rachsüchtig grinsend seine Zehen verspeisen, bevor ein Wärter bemerkte, dass kein Lebender mehr in der dunklen Zelle war?


So wie jetzt saß er oft da, Arme und Beine möglichst eng um sich geschlungen (er wollte den Biestern so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten), und wiegte Stunde um Stunde den Oberkörper vor und zurück, bis ihn schließlich alle Kraft verließ, wenn man den Funken Lebenswillen in ihm überhaupt Kraft nennen konnte.
Ihm war kalt, er hatte schrecklichen Hunger. Schon seit langem traute er sich nicht mehr sich selbst anzufassen, aus Angst vor dem ekelerregenden Gefühl der Knochen, über die sich die dünne Haut spannte.


Er hörte ein Kratzen, schenkte ihm aber keine Aufmerksamkeit. Ratten.
Dann aber spürte er die Tür aufgehen, blickte mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen in das Licht. Mit einer Fackel bewaffnet kamen zwei Wärter herein, auf ihn zu. Sie reagierten nicht auf sein Betteln nach Essen, beantworteten nicht seine Frage, welcher Tag heute war oder warum er eingesperrt war.


Sie fassten das Skelett einfach unter den Armen und trugen ihn aus der Zelle.
Simons Augen schmerzten bei dem vielen Licht, aber er konnte sie auch nicht schließen, aus Angst, sich nicht alles einprägen zu können, was er auf seinem ersten Ausflug aus seiner Zelle sah. Sie trugen ihn eine enge Steintreppe hinauf in einen schwach erleuchteten Raum in dem sich seine Augen entspannen konnten.


Sie hatte keine Angst, dass er fliehen könnte, schwach wie er war legte sie ihn einfach auf den Boden, gingen zu einem Regal an der Wand. Simon sah nicht, was sie dort machten, aber als sie zurückkamen brachten sie ein Seil mit. Sie benutzten es um ihm die Hände auf den Rücken zu fesseln. Zwischen ihnen mehr geschleift als getragen brachten sie ihn dann weiter, aus dem Keller hinaus ins Tageslicht.
Simon genoss die vielen altbekannten Gerüche, das schnauben der Pferde aus dem Stall, das Gefühl der Erde unter seinen Füßen, die frische Luft. Er ließ seinen Blick schweifen, prägte sich alles ganz genau ein. Für den Fall, dass man ihn wieder einsperrte wollte er so viele Einzelheiten wie möglich mit in die Dunkelheit nehmen.
Noch immer hatte man ihm nicht gesagt, was sie mit ihm vor hatten, kein Wort kam über die Lippen der Wärter, die ihn im übrigen auch nie direkt ansahen.


Als Simon dann den aus groben Brettern zusammengezimmerten Henkersplatz sah, auf den er zugetragen wurde, versuchte er sich zu befreien, schrie und flehte, drohte und weinte. Es half nichts, die Wärter schleiften ihn weiter, zwangen ihn schließlich vor einem Holzklotz niederzuknien. Sein Kopf wurde erbarmungslos auf das bereits von Blut durchtränkte Holz gedrückt. Nun sah Simon auch den Mann mit der schwarzen Kapuze. Der Henker stand auf seine Axt gestützt da und verspeiste eine Zwiebel während er auf den Befehl zur Hinrichtung wartete. Von Simon unbemerkt murmelte ein Priester Psalmen für seine unsterbliche Sünderseele.
Schließlich hielt Simon es nicht mehr aus, schloss die Augen und ließ die Tränen ungehindert fließen. Er wollte nicht sehen, wie die scharfe Klinge auf seinen Hals niederfuhr, schloss mit dem Leben ab.


Ein heller Blitz durchfuhr ihn, so also fühlte es sich an wenn man starb. Simon war erstaunt, denn eigentlich hatte es gar nicht weh getan enthauptet zu werden. Noch immer waren seine Augen geschlossen, nun fasste er Mut sich die Welt für das Leben nach dem Tod anzuschauen und öffnete sie.
Alles, was er sah war Dunkelheit


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